CogniclipStudios

Anita Neuron

 Denken, Emotion, Illustration und mehr ...

Schrankgefühle

ein verpixelter Kiefernschrank

Mein erster Besuch eines neuen Möbelhauses in der Innenstadt entwickelte sich für mich nun doch interessanter, als ich zunächst vermutete. Eine längst vergessen geglaubte Erinnerung tauchte plötzlich wieder auf, ganz überraschend und in ungeahnter Weise. Mit etwas Wehmut betrat ich den Laden zu Anfangs schon. Das große Kaufhaus mit seinem vielfältigen Warenangebot war einfach nicht mehr da. Wie viele Erinnerungen, Erlebnisse und vor allem Gefühle waren damit verbunden, von der Kindheit über die Jugend, bis ins Erwachsenenalter. Einzelne Erlebnisse, wie etwa das Aussuchen von Geschenken, Musik, Kleidungsstücken, aber auch Erlebnisse ohne zeitliche Zuordnung, die Erinnerung an das Gefühl, einfach nur entspannt neue Artikel und die bunten Dekorationen zu betrachten, andere Menschen zu sehen oder die Lebendigkeit der Innenstadt als eine Abwechslung vom Alltag zu spüren.

Nun sind zwar positive Erinnerungen, besonders wenn sie schon lange zurückliegen, vielleicht auch mit dem Gefühl verbunden, einfach noch jünger und leistungsfähiger gewesen zu sein oder mehr Möglichkeiten im Leben gehabt zu haben, was sie rückblickend noch wertvoller erscheinen lassen. Es ist aber auch dieses positive Gesamtbild, das sich jahrelang entwickelt hatte und für mich mit diesem Kaufhaus verbunden war und dessen Verlust ich nun ähnlich bedauerte, wie das plötzliche Ende einer liebgewonnenen Fernsehserie oder gar den Tod eines geliebten Schauspielers oder Rockstars.

Stattdessen waren dort nur noch Möbel zu sehen. Auch die geringe Anzahl der wenigen Kunden in diesem neuen Geschäft war nicht vergleichbar mit dem lebhaften Bild der vielen Menschen, die sich hier in vergangenen Zeiten teils in Gruppen durch die Gänge zwischen den Regalen und einzelnen Abteilungen drängten. In anderen Geschäften, die es schon lange gab und in den Einkaufsstraßen, war allerdings ein ähnliches Bild der Leere zu beobachten. Das war nun einmal der Wandel der Zeit und lag wohl auch an einem immer größer werdenden Onlinehandel und dem damit veränderten Konsumverhalten der Menschen.

Allmählich entdeckte ich aber auch immer mehr Deko-Artikel, Lampen, Geschirr, Gläser, Designerware in den verschiedensten Stilrichtungen und das Kaufhausgefühl war irgendwie, wenn auch auf eine andere, positive Art wieder da. In einigen Bereichen des Ladens standen zwischen den Angeboten vereinzelt mal ein Sofa, mal eine Kommode, ein Tisch oder ein Regal herum. Alles jedoch ansprechend gestaltet, so dass ich die neuen Eindrücke mit einem entspannten Gefühl auf mich einwirken ließ, bis plötzlich mein Blick von einem zweitürigen Kiefernschrank aus Massivholz angezogen wurde.

Als ob er eine magnetische Anziehungskraft auf mich ausübte, blieb ich sogar einen Moment stehen. Die Eindrücke und Bilder der Umgebung traten auf eine magische Weise immer mehr in den Hintergrund und wurden mehr und mehr durch das Bild des Schrankes verdrängt.

Für einen kurzen Moment erinnerte ich mich sogar an den Duft von frischem Kiefernholz, obwohl der Schrank in dem Möbelhaus noch zu weit entfernt war, um einen Geruch von dem Holz wahrzunehmen. Vor allem aber war ich überrascht von der Intensität dieser Erinnerung und dass ich nicht sofort in der Lage war, sie mit einem Erlebnis aus der eigenen Vergangenheit in Verbindung zu bringen. Jedenfalls kam es mir so vor, denn schon einen Augenblick später wusste ich wieder, an was mich dieser Duft erinnerte, den ich ja nicht einmal real, sondern als Erinnerung wahrnahm. Allerdings empfand ich diese kurze Zeit als ungewöhnlich lang. Es war, als ob die Zeit immer langsamer verlief und es war die Erinnerung an ein Gefühl aus der Anfangszeit einer Beziehung mit meiner damaligen Freundin, in die ich sehr verliebt war und wir unsere erste gemeinsame Wohnung einrichteten.

Dass es dann doch nicht unsere gemeinsame Wohnung wurde, wir stattdessen getrennte Wege gingen und ich die Wohnung allein bezog, ist ein abgeschlossenes Kapitel meiner und unserer Vergangenheit. Nicht vergessen, aber längst vorbei, wie auch der Schmerz der Trennung, unter dem ich damals sehr litt und von dem ich heute nur noch ein leises Echo fühlen kann, würde ich in meinen Erinnerungen danach suchen, ohne jedoch plötzlich noch einmal von dem Schmerz überrascht zu werden oder ihn erneut wieder überraschend zu finden.

Nun schien ich aber durch den Anblick des Schranks in eine frühere Zeit der positiven Gefühle, des unbeschwerten Glücks und der Zuversicht versetzt zu werden, noch bevor die späteren Ereignisse überhaupt stattgefunden hatten oder für mich auch nur vorstellbar waren. Die Erinnerung, die nun wieder zum Leben erweckt wurde, war nicht nur mit den Sinneseindrücken, wie den Bildern der Wohnung oder dem Duft des Kiefernholzes in meinem Gedächtnis verbunden, sondern eben viel mehr mit genau diesen positiven Gefühlen, die ich so intensiv spürte.

Das war wohl auch der Grund, warum mir dieser kurze Augenblick der Suche nach einer passenden Erinnerung so lang vorkamen. Als ich den Schrank erblickte, begann mein Verstand sofort nach Bildern in meinen Erinnerungen zu suchen. Hat man eine passende Erinnerung gefunden, endet eigentlich die Suche und man empfindet zuerst einen kurzen Impuls der Freude oder Erleichterung, der sich dann mit einem Gefühl der Entspannung beruhigt und langsam wieder abschwächt. Das Ungewöhnliche war jedoch, dass ich diese Empfindung bereits spürte, obwohl der Suchvorgang noch andauerte und sich diese Empfindung auch nicht abschwächte.

Selbst als ich in meinem Gedächtnis die gesuchten Bilder entdeckte - es waren die erinnerten Bilder an unsere erste gemeinsame Wohnung und wie wir zusammen einen Kieferschrank aufbauten -, löste das keinen solchen Impuls oder derartige Empfindungen aus. Stattdessen wurde die bereits vorhandene Empfindung einfach weiter verstärkt, besonders als die damit verbundene Erinnerung an den Duft von Kiefernholz noch hinzukam, denn in Wirklichkeit handelte es sich dabei um das Aufkommen dieser intensiven Gefühle und die nahmen in mir so viel Raum ein, dass für andere Empfindungen einfach kein Platz mehr war, nicht einmal mehr für das Zeitgefühl.

Ich ging weiter durch die Gänge des Möbelhauses, genoss noch eine Weile dieses schöne Gefühl, bis es dann auch langsam weniger wurde und sich mein Zeitgefühl wieder der entspannten Atmosphäre zu Anfangs meines Besuches in dem neuen Möbelhaus anpasste. Auf dem Weg nach Hause freute ich mich über die interessanten Eindrücke, womit ich in dieser überraschenden Form natürlich nicht gerechnet hatte und dachte noch, wie intensiv doch selbst so relativ kurze Erinnerungen sein können, ohne zu ahnen, dass ich erst den Anfang einer Erinnerung gefühlt hatte und "relativ" auch bedeuten kann, dass ihre emotionale Wirkung noch länger nachwirken kann, als zunächst vermutet.

Zu Hause angekommen erledigte ich dann noch einige alltägliche Dinge, nichts Besonderes, bis ich mich dann etwas ausruhte und noch mal an den Besuch im Möbelhaus dachte und an das Gefühl beim Anblick des Kiefernschranks. Ich war erneut überrascht, dass die Erinnerung und die damit verbundenen Gefühle plötzlich zurückkehrten und auch wieder stärker und intensiver wurden, diesmal sogar ohne den Schrank im Möbelhaus real zu sehen, sondern nur als Erinnerung daran. Allerdings tauchte das Bild von dem Schrank im Möbelhaus nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde in meinem Gedächtnis auf, sondern wurde sofort von dem Bild vom Aufbau des anderen Kiefernschranks in der damaligen Wohnung und von den damit verbundenen positiven Gefühlen verdrängt.

Der Duft von Kiefernholz und auch der Geruch der fliederfarbenen frischen Wandfarbe, als wir gemeinsam unsere Wohnung einrichteten, schien wieder in der Luft zu schweben und ich hatte sogar das Gefühl, wieder einen Nachhall der emotionalen Musik zu spüren, die wir damals zusammen hörten und der mich nicht nur nach dem Musikhören selbst, sondern auch die ganze Zeit danach während des Alltags begleitete, verbunden mit dieser positiven Aufbruchstimmung einer unbeschwerten Zeit.

Nun wurde mir wieder deutlich bewusst, dass ich nicht nach solch einem schönen Gefühl suchen muss, da es bereits tief in mir steckt und ich es immer wieder überraschend finde.


 

Kategorie: Schreibprojekt

 * 2023/04/12 - 16:33